von Andreas Maier
Als ich ihn kennenlernte, das war etwa 1995, war er schon lange tot. Er starb, da war ich neun. Als Kind habe ich manchmal von seinen erfundenen Figuren gehört, ich wußte als Jugendlicher auch, daß er eine Zeitlang eine gewichtige Rolle im Leben der Hessen gespielt hat, aber ich hatte kein näheres Bild von ihm und kannte sein Werk nicht. Ich muß schon sagen, daß mir die Augen übergingen, als ich mit etwa sieben- oder achtundzwanzig Jahren zum ersten Mal eine Folge der Firma Hesselbach sah, und zwar Folge zwei, das Techtelmechtel. Ich hatte nie eine Fernsehserie gesehen, in der sämtliche Protagonisten sich so heillos in einen katastrophischen, noch dazu nie zu Ende kommenden Gesprächsprozeß begeben wie in der Firma Hesselbach und später in der Familie Hesselbach.
Die Kommunikationsakte, die bei den Hesselbachs noch am ehesten gelingen, sind die Geschäftsabschlüsse oder das geschäftliche Reden, etwa zwischen Karl Hesselbach und seinem Sohn Willi oder später Herrn Lindner als Nachfolger Willis auf dem Prokuristenstuhl. Aber sobald sich die Menschen bei den Hesselbachs wie die wirklichen Menschen von ihren Fach- und Spezialfragen wegbewegen, um zu den einfachen Dingen zu kommen, sagen wir zu einem Mittagessen, bricht sofort das Chaos aus und jede Sprache zusammen.
Wolf Schmidt analysiert in der Rolle des Karl Hesselbach diese Zusammenbrüche zwar manchmal, aber er kann sie nie verhindern. Denn selbst wenn Karl Hesselbach im Vergleich zu den anderen tendenziell eher analytische Einsicht in den Nichtgelingensprozeß von Sprache unter den Menschen hat, so trägt er diese Analysen doch eher uns, den Zuschauern, vor. Oder haben wir je, wenn Herr Hesselbach ein wieder einmal entstandenes Gesprächschaos rekonstruiert, um durch die Herleitung des Chaos die Leute dazu zu bewegen, einzusehen, daß sie allein für dieses Chaos verantwortlich sind und sonst niemand ... haben wir dann jemals das Gefühl, etwa seine Frau Marie, gespielt von Liesl Christ, würde ihn bei seiner Rekonstruktion verstehen?
Wenn Herr Hesselbach glaubt, seine Frau habe ihn, den Gesprächsprozeß abschließend, endlich verstanden, dann ist dieser Glaube immer ein Irrglaube aus menschlicher Schwäche und das scheinbare Einverständnis seiner Frau nur Auslöser einer anschließenden weiteren, noch höheren Stufe des Gesprächschaos. Und Marie Hesselbach versteht nicht deshalb nicht, weil sie nicht folgen könnte, sondern sie versteht deshalb nicht, weil sie immer etwas anderes unter dem Gesagten verstehen will und nie das, was gerade gesagt wurde.
Stufe eins des Chaos bei den Hesselbachs beginnt nämlich schon damit, daß die Leute nicht zuhören wollen. Und weil sie nicht zuhören wollen, können sie es auch nicht. Das ist eine tägliche Lebenserfahrung. Die Menschen gehen in ihren Köpfen immer weiter, auch wenn man mit ihnen spricht. Sie unterbrechen ja ihren eigenen Willen nicht, während sie zuhören. Meistens sieht man sogar ihrem Gesichtsausdruck an, daß sie nur unwillig zuhören, oder es malt sich in ihren Gesichtern die Freude darüber, was sie selbst gleich sagen werden, und sie warten das Ende des gegnerischen Redebeitrags nicht etwa ab, um zu verstehen, sondern nur, um anschließend ihren eigenen Einfall vorzubringen. (Liesl Christ hat das perfekt gespielt.) Aber weil sie oft schon das nicht aushalten, fallen sich alle bei den Hesselbachs immer ins Wort, und Höhepunkt einer jeden Massenszene ist immer das Chaos.
Wolf Schmidts Familie Hesselbach, für viele das Urbild eines gemütlichen Fernsehnachmittags, ist kein Kitsch, sondern das Gegenteil. Sie implementiert dem Zuschauer ein schleichendes Gift, nämlich das Gift der Selbsterkenntnis. Daß das im Rahmen einer Gemütlichkeitsfernsehserie geschieht, ist natürlich genial. Wolf Schmidt ist ein furchterregender Misanthrop, und er kommt aus Friedberg in der Wetterau, wie ich. Grundlage seiner Misanthropie ist etwas höchst Einfaches, höchst Banales, an dem er aber bedingungslos festhält, nämlich daß die Menschen grundsätzlich eine Sprache der Aufrichtigkeit, der Ehrlichkeit, der Wahrheit sprechen, aber nie aufrichtig, nie ehrlich und nie wahr sind. Deshalb, eben weil es so banal ist, kommt Wolf Schmidts Kunst auch so ohne jegliches Pathos aus.
Aus: Andreas Maier, Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen 2006, Suhrkamp.
© Suhrkamp. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.